SSV Ulm 1846:Der knochige Charme des Kollektivs

Lesezeit: 3 min

Torschütze vom Dienst meldet sich zur Stelle: Felix Higl nach dem 1:0 für Ulm gegen Regensburg. (Foto: Jasmin Walter/Getty/DFB)

Dreimal war der SSV Ulm in seiner Geschichte insolvent. Jetzt steht er kurz vor dem Durchmarsch in die zweite Bundesliga. Mit einer Mannschaft, die mehr aus sich herausholt, als sie sich selbst zugetraut hätte.

Von Christoph Leischwitz, Ulm

Kapitän Johannes Reichert betritt die Katakomben des Donaustadions, er spannt den Bizeps beider Arme an, führt die Fäuste zueinander und reißt den Mund weit auf - doch der Urschrei bleibt aus. Noch. Die Euphorie ist enorm nach dem 1:0-Sieg im Spitzenspiel: Der SSV Ulm 1846 gewann gegen den SSV Jahn Regensburg, der Aufsteiger bezwang im Flutlichtspiel den Absteiger aus der zweiten Liga. Wenn man den Ulmern zu Saisonbeginn gesagt hätte: "Ende April steht ihr auf Platz eins", sie hätten einen ausgelacht. Jetzt blieb Reichert der Aufstiegsschrei noch in der Kehle stecken, es steht ja auch noch Arbeit bevor, aber die Fans der "Spatzen" pfeifen es schon von den Tribünen: Der Durchmarsch des Außenseiters durch die dritte Liga steht kurz bevor.

Nach dem entscheidenden Tor rollte La Ola durchs Stadion. "Wenn ich daran denke, wie wir hier Regionalliga gespielt haben, das war eine harte Zeit", sagt Romario Rösch, ein Spieler, der wie das gesamte Kollektiv an den Aufgaben gewachsen ist. Aktuell "leben wir einfach einen Traum", erklärt der Mittelfeldakteur. Sein Vertrag verlängere sich im Falle des Aufstiegs automatisch, sagt er noch. Hätte er auch nicht gedacht, dass die Klausel gleich im ersten Jahr in der dritten Liga bedeutsam werden könnte.

Nicht nur wegen des explosionsartigen Jubels in der 70. Spielminute erzählte das Siegtor sehr viel darüber, was in Ulm gerade los ist und wie sie das überhaupt geschafft haben, als Außenseiter so weit oben zu stehen. Ausgangspunkt war Leo Scienza, 25, ein Brasilianer, der so dribbelt, wie man es heutzutage in oberen Ligen eigentlich nicht mehr darf. Auch Regensburgs Kapitän Andreas Geipl wurde bei diesem entscheidenden Sololauf düpiert, er nannte Scienza hernach "einen Individualisten, der einfach sehr gut ist für diese Liga".

"Einfach sehr gut für diese Liga": Ulms Brasilianer Leo Scienza. (Foto: Jasmin Walter/Getty/DFB)

Zehn Minuten vor dem 1:0 hatte Geipl Scienza gefoult, noch ein Foul hätte wohl Gelb-Rot bedeutet. Also musste sich der Routinier zurückhalten, und Scienza spielte sogleich einen butterweichen Außenristpass auf Felix Higl, den Vertreter des vorherrschenden Ulmer Spielertypen, den Vorarbeiter, den Bällefestmacher.

Ulm schießt nicht allzu viele Tore, aber sie brauchen auch nicht viele Chancen, um zu gewinnen. Egal, wie das an den verbleibenden vier Spieltagen nun ausgeht: Nach dem Durchmarsch der kleinen SV Elversberg im vorigen Jahr, aktuell mit Ulm auf Platz eins und Preußen Münster, einem weiteren Aufsteiger, auf Rang drei muss sich ein großer Teil der dritten Liga die Frage stellen: Ist eine eingespielte Mannschaft vielleicht mehr wert als eine teure?

Ulms Trainer Thomas Wörle. (Foto: Lucca Fundel/Imago)

"Es gibt mit Sicherheit Mannschaften in der dritten Liga, die andere Möglichkeiten haben", sagt Ulms Geschäftsführer und Vorstandsmitglied Markus Thiele. "Wir holen hier aus wenig viel heraus. Wir sind hier auch nicht all-in gegangen", erklärt der 42-Jährige. Alles auf eine Karte zu setzen, verbietet sich auch in Ulm. Die Sparsamkeit ist kein Klischee, sie hat historische Gründe: Nach den glorreichen Achtzigerjahren schien der SSV wieder wer zu sein, als im Jahr 1999 zunächst mit Trainer Ralf Rangnick und dann mit Martin Andermatt sogar der Aufstieg in die erste Liga gelang. Nach einem Jahr in der Bundesliga folgte aber 2001 prompt die Insolvenz, 2008 noch eine, 2014 noch eine. Deshalb war die Nachricht aus der vergangenen Woche für den SSV besonders bedeutsam, wonach man die Zweitliga-Lizenz ohne finanzielle Auflagen erhält. Dass bald eine Rasenheizung eingebaut wird, ist schon sicher, im Falle des Aufstiegs steht die Stadt als Eigentümerin des Stadions für alle weiteren nötigen Millionenprojekte bereit. "Nach der Vergangenheit unseres Klubs haben wir inzwischen wieder Vertrauen gewonnen", sagt Thiele. Politik, Fans und Gesellschaft stünden jetzt wieder hinter dem Verein.

Trainer Thomas Wörle, der zuvor die Frauen des FC Bayern gecoacht hatte, musste in Ulm erst Überzeugungsarbeit leisten

Das Stadion hat noch eine Tartanbahn und einen knochigen Charme, der wichtigste Ort für das Bier danach ist die Gaststätte Jahnhalle, die genau so aussieht, wie sie heißt. Trotzdem gehen sie hier neue Wege. Wobei: Thiele soll nicht sofort Feuer und Flamme gewesen sein, als seine damalige Co-Geschäftsführerin Myriam Krüger 2021 Thomas Wörle als neuen Trainer vorschlug, einen Trainer, der zuvor ein Frauenteam gecoacht hat. Selbst intern soll Wörle zunächst belächelt worden sein, und das, obwohl er mit dem FC Bayern zwei deutsche Meisterschaften gewann. Rein taktisch galt Wörles Mannschaft schnell als decodiert, und trotzdem sind sie seit nunmehr 14 Spielen ungeschlagen. "Eingespielt sein hat einen hohen Wert für uns", sagt Wörle, der fast immer dieselbe Startelf auflaufen lässt und äußerst selten verletzte Spieler beklagt, trotz sehr intensiver Spielweise. Es sei nicht immer leicht zu vermitteln, warum jemand ständig auf der Bank sitze, der es vielleicht genauso gut könne, sagt Wörle. Doch als Beleg dafür, dass die Chemie nicht nur in der Startelf stimmt, sondern im gesamten Kader, zieht er den Verbandspokal heran. Da gewann kürzlich eine völlig andere Mannschaft das Viertelfinale 2:0, und das immerhin gegen die ebenfalls ambitionierten Stuttgarter Kickers.

Ob ihn der Erfolg selbst überrascht hat? "Natürlich! Aber was man nie weiß, ist, wie schnell sich eine Mannschaft entwickelt und Rückschläge überwindet", sagt Wörle. Zahlreiche Verträge laufen aus. Ein Dribbler wie Leo Scienza, dessen Vertrag bis 2025 läuft, wird wohl nur im Falle eines Aufstiegs in Ulm zu halten sein. Am Sonntag spielen sie beim bereits feststehenden Absteiger SC Freiburg II. Aber mit sieben Punkten Vorsprung auf Relegationsrang drei haben sie in Ulm allmählich doch einmal den Zeitpunkt erreicht, ab dem es etwas zu verlieren gibt.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusLars Ricken beim BVB
:Der Liebling der Fans wird Watzke-Nachfolger

1997 wurde Lars Ricken durch ein Traumtor zur Klublegende, nun steigt er zum Dortmunder Geschäftsführer auf. Eigentlich galt Sportdirektor Sebastian Kehl als Favorit für die Thronfolge - der muss zudem mit einer zweiten Personalie klarkommen.

Von Freddie Röckenhaus

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: